Forschungsinstitut für
Nachhaltigkeit | am GFZ

Ethikrichtlinien und Protokolle für die Forschung über indigene Völker der Arktis: Überlegungen aus einer Masterarbeit

28.11.2025

Isabel Lingner

A scene from Ikaarvik’s "Mitten Model" Workshop at the 2023 Week of Exchange in Oulu, Finland.*
Aufgenommen während des „Mitten Model”-Workshops der NGO Ikaarvik im Rahmen der „Week of Exchange” 2023 in Oulu, Finnland

Indigene Forscher bemühen sich seit langem um antikoloniale, gerechte Forschungspraktiken. Angesichts der rasanten Zunahme der Arktisforschung in den letzten Jahren ist eine echte und ethische Zusammenarbeit wichtiger denn je. Ohne die richtigen Werkzeuge und das entsprechende Bewusstsein besteht jedoch die Gefahr, dass gut gemeinte Bemühungen koloniale Schäden noch verstärken.

Als studentische Hilfskraft innerhalb der Gruppe „Arktisforschung neuDENKEN: Beziehungen, Ethik, und Methoden“ (was schließlich zu meiner Masterarbeit führte) war ich an einem Projekt namens NJUOLLA->QARJUK beteiligt, das darauf abzielte, diese Lücken zu schließen. Das Projekt unterstützt die gemeinsame Erstellung respektvoller, selbstbestimmter Forschungsprojekte, indem es einen leichteren Zugang zu Forschungsethikrichtlinien und -protokollen ermöglicht, die von indigenen Gemeinschaften und Organisationen der Arktis (mit-)entwickelt wurden. Alle Aktivitäten und Ergebnisse des Projekts werden gemeinsam von Forschenden des RIFS und zwei indigenen Organisationen entwickelt: dem Saami Council und Ikaarvik. Ich bin diesen Partnern dankbar, dass sie mich an ihren Aktivitäten teilnehmen ließen, sodass ich zuhören, lernen und meine Forschung gestalten konnte.

In diesem Blogbeitrag teile ich einige meiner wichtigsten Erkenntnisse und Überlegungen aus meiner Beteiligung an diesem Prozess.

Verbindungen und Beitrag zu NJUOLLA->QARJUK

Mehrere indigene Gemeinschaften, Organisationen und Regierungen der Arktis haben Protokolle für indigene Forschung und Richtlinien (IRGPs) entwickelt, um die Forschung auf der Grundlage regionaler und gemeinschaftsspezifischer Anforderungen, Werte und Interessen zu leiten. Ausgehend von ihrer Arbeit habe ich in meiner Masterarbeit IRGPs aus Inuit Nunangat (der Heimat der Inuit in Kanada) durch Online-Recherchen identifiziert. Anschließend habe ich diese Protokolle analysiert, um eine praktische Orientierungshilfe für nicht-indigene Forscher zu entwickeln, insbesondere in Regionen, in denen es noch keine etablierten IRGPs gibt. Auf der Grundlage meiner Ergebnisse fasst meine Masterarbeit die Gemeinsamkeiten dieser Richtlinien zusammen und zielt darauf ab, deren Aussagen durch direkte Zitate so weit wie möglich zu untermauern.

Die Konsolidierung der Richtlinien mittels einer strukturierten Online-Suche macht die unter Federführung von Indigenen entsandenen Forschungsrichtlinien leichter zugänglich und senkt die Hürden für nicht-indigene Forscher und andere, diese zu finden und zu befolgen. Die von mir gesammelten IRGPs flossen auch direkt in ein wichtiges Ergebnis von NJUOLLA->QARJUK ein: eine frei zugängliche Datenbank mit von indigenen Völkern der Arktis (mit-)verfassten Forschungsethikrichtlinien. Darüber hinaus wird im Rahmen von NJUOLLA->QARJUK ein praktischer Leitfaden erarbeitet, der es indigenen und nicht-indigenen Forschungspartnern ermöglicht, gemeinsam ihre eigenen Forschungsprotokolle zu erstellen, die auf indigener Führung und Selbstbestimmung basieren. Meine Dissertation bietet ähnliche Leitlinien mit einem besonderen Schwerpunkt auf der kanadischen Arktis. Beide Projektergebnisse werden Ende 2025 auf der Website von Co-Create Arctic veröffentlicht: https://co-create-arctic.org/ 

Die Zusammenarbeit mit IRPGs und die Arbeit im Rahmen dieses Projekts hat mir viel darüber beigebracht, wie ethische, kooperative Forschung aussehen sollte. Es hat mich auch dazu herausgefordert, über meine eigene Position zu reflektieren und kritischer über Kapazitätsbewusstsein und Verantwortung in Forschungspartnerschaften nachzudenken, unter anderem durch den Prozess des Verfassens der Dissertation. 

Was sind indigene Forschungsrichtlinien und -protokolle?

Indigene Forschungsrichtlinien und -protokolle (IRGPs) sind Rahmenwerke, die von indigenen Gemeinschaften und Organisationen (mit-)verfasst wurden und Erwartungen und Anforderungen an Forschende festlegen, die in ihren Heimatländern arbeiten. Sie umfassen lokale Gemeinschaftsrichtlinien – wie den Gjoa Haven Research Planning Workshop Report (Laidler & Grimwood, 2010) – bis hin zu umfassenderen nationalen und internationalen Strategien, darunter die National Inuit Strategy on Research (Inuit Tapiriit Kanatami, 2018) für Inuit Nunangat und die Circumpolar Inuit Protocols for Equitable and Ethical Engagement (Inuit Circumpolar Council, 2022) für die Inuit in Alaska, Kanada, Kalaallit Nunaat und Tschukotka. Diese Rahmenwerke sind das Ergebnis intensiver Konsultationen, indigener Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Selbstverwaltung in der Arktisforschung.

Was uns die IRGPs lehren

Eine qualitative Inhaltsanalyse der IRGPs von Inuit Nunangat ergab drei Hauptthemen: Grundlegende Werte wie Respekt, Gegenseitigkeit, Bescheidenheit, Ehrlichkeit und Offenheit seitens der Forscher; übergreifende Themen wie Beziehungsaufbau, freie, vorherige und informierte Zustimmung, Anerkennung des indigenen Wissens und Reflexivität der Forscher; sowie praktische Leitlinien in Bezug auf Zeitpläne für die Forschungsbeteiligung, Vorteilsausgleich, Datenverwaltung, Zustimmung der Gemeinschaft und gegenseitigen Kapazitätsaufbau.

Ethische Forschung beginnt lange vor der Datenerhebung, nämlich mit der Arbeit, die eigene Position zu verstehen, sich mit der Geschichte und Governance des Ortes, an dem man arbeiten möchte, vertraut zu machen und sich die Zeit zu nehmen, echte, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. 

IRGPs sind Rahmenwerke, die betonen, dass ethische Forschung lange vor der Datenerhebung beginnt. Sie erfordern kontinuierliche Selbstreflexion, das Verständnis der eigenen Position und den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen. Praktiken wie die Einholung einer freien, vorherigen und informierten Zustimmung sind kontinuierlich und kollektiv und keine einmaligen Verfahren. Darüber hinaus fördern IRGPs den gegenseitigen Kapazitätsaufbau, erkennen indigenes Wissen als gleichwertig an und konzentrieren sich auf langfristiges, wechselseitiges Engagement statt auf bloße Einhaltung von Vorschriften. Ethische Forschung basiert auf kontinuierlicher Reflexion und Beziehung, nicht auf dem „Abhaken von Kästchen” ethischen Engagements.

„[Indigene Forschungsrichtlinien und -protokolle] sind keine Abkürzungen zur Aufrechterhaltung des Status quo der vorherrschenden Wissenschaft, sondern wichtige Instrumente, die Forschenden, die bereit sind, sich in sinnvollen, für beide Seiten vorteilhaften und transformativen Forschungspartnerschaften zu engagieren, Orientierung bieten.”  (Lingner, 2025)

IRGPs sind keine Abkürzungen zur Aufrechterhaltung des Status quo, sondern wichtige Werkzeuge für Forschende, die sich für den Aufbau sinnvoller, wechselseitiger und transformativer Partnerschaften engagieren. Sie erfordern Demut, Reflexivität und den Aufbau nachhaltiger Beziehungen. Für diejenigen, die sich der ethischen Forschung verschrieben haben, dienen IRGPs als Kompass, der uns über die einfache Einhaltung von Vorschriften hinaus zu echtem gegenseitigen Nutzen führt. Das Erkennen unserer Vorurteile und die Arbeit an der Dekolonisierung unserer Perspektiven sind wesentliche Schritte zur Schaffung von Beziehungen, die auf Respekt, Vertrauen und gemeinsamen Werten beruhen.

Links

Die Forschungsgruppe „reIMAGINE Arctic“ am RIFS: https://www.rifs-potsdam.de/en/research-group/arctic-governance

Die Co-Create Arctic-Website: https://co-create-arctic.org/

Brunet, N. D., Milton, J. S., Thompson, S. A., Milton, M., Henri, D. A. & Elverum, S. (2025). „Everyone wears mitts”: reflections on the use of metaphors in knowledge co-production in Nunavut, Canada. Arctic Science, 11, 1-9.

Laidler, G., & Grimwood, B. (17.–19. Februar 2010). Bericht über die Ergebnisse eines Forschungsplanungsworkshops
Planungsworkshops in Gjoa Haven. Qaggivik-Workshop für Älteste, Gjoa Haven, Nunavut. StraightUpNorth. https://straightupnorth.ca/wp-content/uploads/2020/05/gh_2010_02_workshopreport_en.pdf

Inuit Tapiriit Kanatami. (2018). Nationale Inuit-Strategie zur Forschung. https://www.itk.ca/wp-content/uploads/2018/04/ITK_NISR-Report_English_low_res.pdf

Inuit Circumpolar Council. (2022). Circumpolar Inuit Protocols for Equitable and Ethical Engagement. https://www.inuitcircumpolar.com/project/circumpolar-inuit-protocols-for-equitable-and-ethical-engagement/

Lingner, I. (2025) Richtlinien und Protokolle für die indigene Arktisforschung in Inuit Nunangat: Eine Orientierungshilfe für nicht-indigene Forscher, die auf dem Heimatland der indigenen in der kanadischen Arktis forschen. [Masterarbeit] Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde
 

Contact

Dr. Nina Döring

Forschungsgruppenleiterin
nina [dot] doering [at] rifs-potsdam [dot] de
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