Akademischer Extraktivismus – Wie fördern wir anhaltende koloniale Beziehungen in wissenschaftlichen Institutionen?
29.12.2025
Vor der RIFS-Konferenz, am 3. Dezember in Berlin, hielten die Forschungsgruppe „Arktisforschung neuDENKEN“ und assoziierte Wissenschaftler:innen einen Workshop über „Conversations in Tough Times on Arctic Research” (Gespräche über Arktisforschung in schwierigen Zeiten). Der Workshop befasste sich mit akademischem Extraktivismus, Dekolonialisierung, Nachhaltigkeit und den Zusammenhängen zwischen diesen Themen.
Von welcher Perspektive kamen Sie, als Sie begannen diesen Blogbeitrag zu lesen? Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, was für Sie „Zuhause“ bedeutet. An welche Orte oder Menschen denken Sie zuerst? Behalten Sie dieses Bild im Kopf – wir werden später darauf zurückkommen.
Während des Workshops nutzten wir diese Übung als Einführung, bevor wir uns zu zwei Texten austauschten. Der erste Text ist ein noch unveröffentlichter Artikel von Naja Dyrendom Graugaard (Assoziierte Professorin, Universität Kopenhagen & RIFS Assoziierte Wissenschaftlerin) und Vivi Vold (Forscherin an der UiT) über die Erfahrungen der Inuit mit dem, was sie „akademischen Extraktivismus in der Arktisforschung” nennen. Der zweite Text, mit dem wir uns beschäftigten, war die Einleitung zu „The Undercommons – Fugitive Planning & Black Study” von Stefano Harney und Fred Moten, vorgeschlagen von RIFS-Fellow Saskia de Wildt.
Wir orientierten uns an drei Fragen:
- Was hat dich beim Lesen der Texte am meisten überrascht?
- Was hat dich in Bezug auf deinen aktuellen Forschungs-/Denkprozess am meisten angesprochen?
- Inwiefern sind diese Texte konkret für unsere gemeinsamen Projekte/Kooperationen relevant?
Im Laufe der Gespräche kamen immer mehr Fragen auf. Die Antworten hingegen waren teilweise schwer zu fassen. Dennoch möchten wir einige unserer Gedanken und Schlussfolgerungen mit Ihnen teilen.
Akademischer Extraktivismus
“A research process that approaches the knowledge and experiences of Indigenous, racialized, gendered, and other marginalized peoples as something to be extracted, used, appropriated, and sometimes exploited.” – Graugaard & Vold, 2025, p.2 (forthcoming)
(übersetzt: „Ein Forschungsprozess, der das Wissen und die Erfahrungen indigener, rassifizierter, geschlechtsspezifischer und anderer marginalisierter Bevölkerungsgruppen als etwas betrachtet, das extrahiert, genutzt, angeeignet und manchmal ausgebeutet werden kann.“ – Graugaard & Vold, 2025, S. 2 (erscheint in Kürze))
In ihrem Artikel gehen Graugaard & Vold näher auf die Arbeit der Nishnaabeg-Wissenschaftlerin Leanne Betasamosake Simpson ein:
“Extracting is stealing - it is taking without consent, without thought, care or even knowledge of the impacts that extraction has on the other living things in that environment.” (Simpson, 2017).
(übersetzt: „Extrahieren ist Stehlen – es ist Nehmen ohne Zustimmung, ohne Nachdenken, ohne Rücksicht oder gar Kenntnis der Auswirkungen, die die Extraktion auf die anderen Lebewesen in dieser Umgebung hat.“ (Simpson, 2017))
Positionalität
Zurück zur Denkübung vom Anfang: Woher kommen Sie innerhalb der wissenschaftlichen Welt? Welche Position bringen Sie in Ihre Arbeit ein? Eine ehrliche Reflexion über diese Fragen ist für das Verständnis kolonialer Beziehungen unerlässlich.
Die reIMAGINE Arctic-Gruppe ist Teil des Forschungsinstituts für Nachhaltigkeit (RIFS) in Deutschland und besteht aus Wissenschaftler:innen, die nicht aus der Arktis kommen. Dies wirft eine wichtige Frage auf: Was motiviert Forscher:innen ohne arktischen Hintergrund, in diesem Kontext zu arbeiten?
Das Hinterfragen des akademischen Systems kann zu einem Gefühl der Entfremdung führen. Forscher:innen erkennen möglicherweise, dass sie Teil von Strukturen sind, die koloniale, rassistische und geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten aufrechterhalten – eine Erkenntnis, die unangenehm oder sogar bedrohlich sein kann.
„Bin ich als männlicher, weißer Wissenschaftler die richtige Person, um Arktisforschung zu betreiben?“ – Torben Windirsch (RIFS Fellow)
Die Unschuld der Daten
Im Allgemeinen wird Datenerhebung oft als neutral und objektiv wahrgenommen und dargestellt. Die Entscheidungen, die in der Forschung getroffen werden – was gemessen wird, wann, wo und was veröffentlicht wird – sind jedoch stark von menschlichen Absichten beeinflusst.
Wir diskutierten, wie diese vermeintliche Neutralität und Objektivität in einigen Forschungsbereichen mit der Überzeugung zusammenhängen, dass Daten und Fakten von Natur aus unschuldig sind und keinen Schaden anrichten können. Das Problem dieser Denkweise ist, dass Daten als eine Form von Wissen immer mit sozialen Beziehungen verbunden sind. Wie Naja Dyrendom Graugaard und Vivi Vold in ihrem in Kürze erscheinenden Artikel aufzeigen, werden sie als Indigene Forscherinnen häufig gebeten, ihr Wissen für Projekte zur Verfügung zu stellen, ohne dass die Projektpartner:innen ebenfalls etwas teilen.
„Die Bitte, mein Wissen zu teilen, beinhaltet oft auch die Bitte, meine Beziehungen, meine Kontakte und meine Gemeinschaft zu teilen – unter der Prämisse, die Arbeit der Person, die die Bitte geäußert hat, voranzubringen, ohne jedoch ausdrücklich zu berücksichtigen, wie diese Verbindung den Menschen zugutekommen könnte, deren Kontakte ich teilen soll.“ – Naja Dyrendom Graugaard in Graugaard & Vold, 2025, S. 9 (erscheint in Kürze).
Es ist daher von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass Wissen niemals außerhalb sozialer und machtpolitischer Beziehungen produziert oder ausgetauscht wird und als solches immer das Potenzial birgt, Schaden zu verursachen.
Von Rebellion und Verweigerung
Ausgehend von „The Undercommons“ diskutierten wir die Schwierigkeit, sich in Systemen zurechtzufinden, die oft nur die Entscheidung für das „Kleinere von zwei Übeln“ bieten (Evie Morin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am RIFS). In diesem Fall kann die Ablehnung aller gebotenen Optionen dazu führen, dass neue Räume mit Möglichkeiten außerhalb der Grenzen des akademischen Systems entstehen. Für Indigene Wissenschaftler:innen kann Verweigerung auch bedeuten, extraktivistische Anfragen zu identifizieren und abzulehnen, beispielsweise von Personen, die kein Interesse daran haben, gemeinsam Prozesse und Ergebnisse zu gestalten.
Aber wann sollte die Ablehnung beginnen? Zeitliche Zwänge im Antragsverfahren für Projektfinanzierungen erschweren es enorm, von Beginn an einen ko-kreativen Ansatz zu verfolgen. Weitere Finanzierungs- und Ergebnisbeschränkungen während des Projekts gestalten es ebenfalls schwierig, dauerhafte und nachhaltige Beziehungen zwischen Projektpartner:innen aufzubauen. Rebellion bedeutet nicht nur, „Nein“ zu sagen, sondern auch, sich eine Zukunft jenseits der unmittelbaren Beschränkungen vorzustellen, die uns durch Verträge und koloniale Hinterlassenschaften auferlegt werden.
Wissensaustausch
Abschließend diskutierten wir Methoden zum Wissensaustausch zwischen verschiedenen Forschungsbereichen. Wie können Räume für Gespräche, wie unsere Runde im Workshop, vervielfacht werden? Was schützt radikale und wilde Räume davor, von einem System übernommen und unbeabsichtigt in kapitalistisch verwertbare, messbare und bewertbare Formate gezwängt zu werden? Einige der Lösungen, die wir sehen: In den Sozialwissenschaften können künstlerische Formen des Wissensaustauschs genutzt werden; Artikel können als Gespräche geschrieben werden, Erzählungen und Bilder können genauso relevant sein wie schriftliches Wissen. In den Naturwissenschaften und anderen Bereichen, die nach Repräsentativität streben, werden diese Methoden und Indigene Forschungsansätze jedoch oft als unprofessionell wahrgenommen. Konventionellen Bewertungskriterien sowie Vorstellungen von Professionalität müssen kritisch untersucht werden.
Im letzten Teil unseres Workshops konnten wir das Graphic Recording der Berliner Künstlerin Susanne Asheuer betrachten. Das Graphic Recording als Form der Wissensvermittlung bewahrte nicht nur den Charakter unserer Gespräche, sondern eröffnete auch einen Raum für Evaluation.
Die Forschungsgruppe reIMAGINE Arctic bedankt sich bei allen beteiligten Künstler:innen und Wissenschaftler:innen für ihre Teilnahme am Workshop. Wir freuen uns darauf, gemeinsam weiter zu lernen und zu forschen, während wir auf dekoloniale und nicht-extraktive Forschungspraktiken in der Arktis hinarbeiten.
