Transdiziplinäre Arktis-Forschung – ein Sprung ins kalte Wasser
04.11.2025
Plötzlich mit Menschen arbeiten?!
Wer sich mit Forschung beschäftigt, speziell mit Forschung, die über ein Fachpublikum hinausgeht, realisiert schnell, dass von den Ergebnissen möglicherweise die Lebensgrundlage und finanzielle Zukunft anderer Menschen abhängt, dass Ergebnisse also Auswirkungen und Implikationen für die echte Welt da draußen haben. Und wenn man genauer nachdenkt, stellt man fest: Das betrifft einen weitaus größeren Teil der Forschung, als man erstmal denkt. Gerade in der naturwissenschaftlichen Umweltforschung haben Ergebnisse oftmals das Potenzial, großen Nutzen oder großen Schaden zu verursachen, abhängig davon, wie damit umgegangen wird. Wenn das Ganze nun noch in schwer zugänglichen, fragilen Ökosystemen stattfindet und die Auswirkungen eine lokale Bevölkerung betreffen könnten, deren Lebensweise und Kultur eng mit diesem Ökosystem verbunden ist, sollte man spätestens dann einsehen, dass es mit der Erforschung chemischer Prozesse oder der Ausbreitung einzelner Arten leider nicht getan ist.
Wie kann man mit einer solchen Komplexität umgehen?
Ich möchte anhand meiner eigenen Forschungserfahrung zeigen, wie es für mich war, aus einem rein naturwissenschaftlichen Forschungsfeld plötzlich mit dieser Herausforderung konfrontiert zu sein und was für Erfahrungen ich auf meinem Weg in transdisziplinäre Arbeitsweisen mitgenommen habe.
Ich bin Geoökologe und arbeite seit einigen Jahren zu Umweltveränderungen in der terrestrischen Arktis, insbesondere zur Beeinflussung von Bodentemperatur, Bodenkohlenstoff und Vegetation durch die dortigen Nutztiere – speziell Rentiere. Ich hatte in meiner Arbeit einige mögliche umweltpositive Effekte von Rentierhaltung festgestellt und dachte, das müsste man doch aktiv nutzen können, indem man bestehende Haltungsformen abändert, zeitlich oder räumlich umstrukturiert und an die modernen Anforderungen des Klimawandels anpasst[1] – also, an wen wende ich mich damit? Und auf ging‘s in den Kaninchenbau! Denn mit wem sollte man darüber reden, wer wäre berechtigt, Änderungen an einer Jahrtausende alten Lebensweise vorzunehmen?
Die Antwort war recht naheliegend: Rentierzüchter:innen, die diese traditionelle Lebensweise betreiben. Doch wie trete ich mit denen in Kontakt, wer sind die richtigen Ansprechpartner, wie stehen einzelne Züchter, lokale und regionale Akteure, aber auch die gesamte Gemeinschaft zu Neuerungen? Spätestens an diesem Punkt war klar, dass die Kommunikation einerseits möglichst direkt und niedrigschwellig, idealerweise persönlich und vor Ort, geschehen sollte, aber auch, dass ich keinerlei Erfahrung mit dieser Art der Kommunikation habe. Ich habe gelernt, wie man vor einem wissenschaftlichen Publikum spricht oder Wissenschaft Kindern und Jugendlichen näherbringt, doch was mir hier fehlte, war das klassische Handwerkszeug der Sozialwissenschaften und der (niedrigeschwelligen) Kommunikation mit verschiedenen Interessensgruppen. Ich habe gelernt, dass es zu jedem Inhalt eine Vielzahl an Perspektiven gibt – solche, die ich nicht kannte, und auch solche, die ich nicht verstand, weil ich zu weit von der Lebensrealität der Betroffenen entfernt war. Ich habe viel gelesen und versucht, mir verschiedene Sichtweisen anzueignen, quasi einen Multi-Proxy-Approach zu fahren, und bin schnell an meine Grenzen gestoßen.
Die Art und Weise, wie wir – und damit meine ich uns als Menschheit – mit unserer Umwelt verbunden sind und interagieren, ist sehr vielschichtig und stark kulturell geprägt. Nicht umsonst lassen sich nach Aussage vieler indigener Autoren, wie beispielsweise Robin Wall Kimmerer, die direkte Umwelt, Personen, Glauben und Wissenschaft nicht voneinander abgrenzen: „Each person, human or no, is bound to every other in a reciprocal relationship. Just as all beings have a duty to me, I have a duty to them. If an animal gives its life to feed me, I am in turn bound to support its life. If I receive a stream’s gift of pure water, then I am responsible for returning a gift in kind. An integral part of a human’s education is to know those duties and how to perform them.“[2] Dies ist ein Beispiel für eine Denkweise, die in einer naturwissenschaftlich-akademischen Umgebung mindestens zu kurz kommt, wenn nicht oftmals sogar ganz fehlt. Und gerade weil solche Denkweisen hier zu selten vertreten sind, sollten wir als Forschende uns der Existenz dieser teils vollkommen andersartigen Perspektiven bewusst sein, versuchen sie zu verstehen oder mindestens anerkennen – und auch einsehen, wann man die eigenen Kapazitäten ausgeschöpft hat. Und das passierte mir überraschend schnell.
Aber keine Angst!
Es gibt gute Möglichkeiten, mit dieser Vielschichtigkeit umzugehen. Man weiß im tiefsten Innern, dass man nicht alles können kann, und dieses Wissen zu einer aktiven Erkenntnis zu machen, ist schon ein großer Schritt. Einzusehen, dass man Unterstützung braucht, und Netzwerke zu schaffen, die diese Unterstützung bieten können – das war relativ schnell das wahre Ziel meines Projektes. Dazu gehört die Vernetzung mit Kollegen aus der Sozial- und Politikforschung, die idealerweise mit der Umgebung des Projektes vertraut sind und bereits Kontakte in die lokale Bevölkerung haben. Ebenso wichtig ist ein großzügiges Zeitkontingent, um Kommunikation vor Ort durchführen zu können, und das am besten frühzeitig und mit einem eher vagen Plan, denn oftmals erfährt man im Gespräch, an wen man sich als nächstes wenden oder welche bisher übersehenen Aspekte oder Konflikte man unbedingt noch beachten sollte. Kontakte zu lokalen Vereinigungen und auch Behörden sind ebenso wichtig – und all das ist einfach zu viel für eine einzelne Person. Sinnvoller ist es, einige wenige Punkte für zukünftige Projektplanungen zu verinnerlichen:
- Bereits bei der Idee zu einem Projekt mit potenziellen Umweltauswirkungen überlegen: Wen könnte das betreffen, wer hat Interesse daran? Ich habe festgestellt, dass co-kreative Projektansätze sehr gut funktionieren, wenn man die eigene Forschung als Service versteht, den man in ein Projekt einbringt, statt die Forschung zum hauptsächlichen (oft auch emotionalen) Schwerpunkt des Projekts zu machen.
- Den groben, gemeinsam erarbeiteten Projektentwurf in unterschiedlichen Stadien von Kollegen anderer Forschungsfelder lesen zu lassen und auch deren Input aufzunehmen.
- Sich der eigenen Wissens-, Erfahrungs- und Kapazitätsgrenzen bewusst werden.
Niemand kann ohne jegliche Hilfe solche vielschichtigen Projekte umfangreich bearbeiten, und niemand verlangt das. Die westliche akademische Welt kommt erst langsam dahinter, dass Systeme nicht nur in ökologischer Hinsicht, sondern auch auf vielen anderen Ebenen lokal, regional und global zusammenhängen und dementsprechend behandelt werden müssen, um mit den eigenen Forschungsergebnissen einen nachhaltigen positiven Effekt zu erzeugen. Und auch wenn dieses Umdenken erst langsam stattfindet – die Tatsache, dass es stattfindet, ist ein positiver Schritt. Also keine Angst, diesen Weg zu gehen, denn wollen wir nicht alle, dass unsere Forschung letztendlich einen positiven Einfluss auf das große Ganze hat?
[1]Wer mehr dazu erfahren möchte, findet eventuell diesen Artikel zum Thema interessant: https://doi.org/10.1080/15230430.2024.2379717
[2]Kimmerer, R. W. 2013. Braiding Sweetgrass. First edition ed. Milkweed Editions,
