Headline: Ist im Anthropozän eine neue Harmonie mit der Natur möglich? Mark Lawrence spricht vor UN-Generalversammlung

Im Jahr 2009 erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 22. April zum Internationalen Tag der Mutter Erde. Die Mitgliedsstaaten verliehen damit ihrer Überzeugung Ausdruck, dass ein stärkeres Engagement für ein harmonisches Verhältnis von Mensch und Natur notwendig sei. Denn nur so könnten die heutigen und künftigen Anforderungen an Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt möglichst gut erfüllt werden. Im selben Jahr begannen zwischenstaatliche Verhandlungen unter der Leitlinie „Harmony with Nature“ (Harmonie mit der Natur). Ihr Ziel ist es, von einer anthropozentrischen Weltsicht zu einer Denkweise zu gelangen, die die Natur als gleichwertigen Partner der Menschheit anerkennt. Beim fünften Dialog der „Harmony with Nature“-Initiative sprach heute Mark Lawrence, Wissenschaftlicher Direktor am IASS, vor der UN-Generalversammlung über Möglichkeiten, in unserem menschendominierten Zeitalter – dem Anthropozän – im Einklang mit der Umwelt zu leben. Anknüpfend an einen Vortrag, den er beim zweiten Dialog 2012 gehalten hatte, ging er besonders auf die Herausforderung ein, der Post-2015-Entwicklungsagenda eine tragfähige Basis zu geben.

Lawrence, der als Wissenschaftlicher Direktor am IASS insbesondere zu Klima- und Atmosphärenforschung arbeitet, beschrieb in seiner Rede den möglichen Übergang vom „Anthropozän, wie wir es kennen“ zu einem „Anthropozän 2.0“. Er sagte, dass die Folgen unseres Handelns auf die Umwelt bislang zum großen Teil unbeabsichtigt und unkoordiniert gewesen seien, etwa Nebenwirkungen der Energieerzeugung, der Kraftstoffverbrennung für Beförderungszwecke oder des Getreideanbaus zur Erzeugung von Nahrungsmitteln. Dies werde sich angesichts der „Großen Beschleunigung“, die seit den fünfziger Jahren zu beobachten ist und sich in Phänomenen wie steigenden Treibhausgas-Konzentrationen und einer rasch zunehmenden Weltbevölkerung manifestiert, möglicherweise bald ändern: „Die zukünftige Weltgemeinschaft oder vielleicht eine Koalition der Nationen könnte versuchen, das globale Klima gezielt und mit abgestimmten Maßnahmen zu kontrollieren ebenso wie andere Teile des Erdsystems etwa die Vegetation oder den Wasserkreislauf.“ Dieser Einfluss könne die Form von „Klima-Interventionen“ annehmen, bei denen der Atmosphäre Gigatonnen an Kohlendioxid entzogen werden oder Sonnenlicht von der Erde weg reflektiert wird.

Durch die verstärkte Kontrolle über seine Umwelt änderten sich auch das Selbstbild des Menschen und sein Verhältnis zur Natur, erläuterte Lawrence. Welche Art von Anthropozän – oder Anthropozän 2.0 wir für künftige Generationen schaffen, sei eine zentrale Frage: „Wird es ein menschliches Anthropozän sein, also eines, in dem individuell egozentrische und kollektiv anthropozentrische Bedürfnisse weiterhin unser Verhalten bestimmen und dabei unsere Bereitschaft und Akzeptanz demonstrieren, das Leiden von Milliarden anderer Menschen und zahllosen anderen Lebensformen – besonders solche, die im Dienste unserer Gier nach immer mehr und mehr gezüchtet werden – zu ignorieren, oder gar anzuerkennen? Oder wird es ein humanes Anthropozän, ein mitfühlendes und nicht-anthropozentrisches Zeitalter, in dem es uns eines Tages gelingt, unser Potenzial zur Erschaffung einer wirklich gerechten und friedlichen Welt zu erfüllen, in der die Harmonie mit der Natur anerkannt ist als Teil unserer tiefsten menschlichen Natur?“

Wer über Wege zu einem harmonischen Mensch-Natur-Verhältnis nachdenke, habe unweigerlich auch Bilder von Mülldeponien, Ölkatastrophen und Massentierhaltung vor Augen, so der Atmosphärenwissenschaftler. Dennoch sehe er Gründe, mit Optimismus in die Zukunft zu blicken. So seien erstens viele Lösungswege für eine nachhaltigere Lebens- und Wirtschaftsweise verfügbar, die nicht unbedingt etwas mit gezielter Kontrolle über die Umwelt zu tun haben. Dazu gehörten Technologien für erneuerbare Energieträger, nachhaltiges Bauen, ökologische Landwirtschaft, und emissionsarme Verkehrsmittel. Für die Weiterentwicklung dieser Wege zu mehr Nachhaltigkeit sei künftig eine verstärkte Zusammenarbeit von Akteuren aus verschiedenen Gesellschaftsgruppen notwendig, einem Vorhaben, dem sich das IASS mit seinem transdisziplinären Ansatz verpflichtet habe. „Es gibt weltweit einen starken Trend, die vielen Formen des existierenden Wissens einzubeziehen und sich nicht nur auf die Wissenschaft als einzigen Antwortgeber zu verlassen“, erläuterte Lawrence. Dies sei der zweite Grund für seinen Optimismus. Drittens wachse auch das Bewusstsein der breiten Bevölkerung, dass eine Veränderung der eigenen Gewohnheiten notwendig und auch möglich sei – und dass diese Veränderung sogar zu einer höheren Lebenszufriedenheit führen könne.

Als vierten Grund nannte Lawrence die Beobachtung, dass Bewegungen, die sich für ein harmonischeres Miteinander der Menschen einsetzen, an Zulauf gewönnen. Ein harmonisches Verhältnis zu den Mitmenschen wirke sich positiv auf das Verhältnis des Menschen zur Natur aus. „Diese Zusammenhänge werden auf ganz verschiedene Weise anerkannt, zum Beispiel durch die größere Aufmerksamkeit, die Achtsamkeit und Glück zu Teil werde … wenn wir Achtsamkeit und inneres Glück pflegen, kann dies entscheidend dazu beitragen, die umfassenden systematischen Veränderungen zu erreichen, die notwendig für eine nachhaltige Entwicklung und einem Leben in Harmonie mit der Natur sind“, sagte Lawrence.

Zusammenfassend appellierte Lawrence an die Versammlung, gerade angesichts der Debatte um die Post-2015-Agenda zu reflektieren, ob wir uns auf ein Anthropozän 2.0 mit seinen gezielten Eingriffen in die Umwelt zubewegen und das tatsächlich wollen, ob wir uns auf dem Weg zu einem menschlichen Anthropozän oder gar einem humanen Anthropozän machen wollen. Er hob die Bedeutung der Integration verschiedener Erkenntnisformen hervor: Erfahrungswissen, durch individuelle Anstrengungen und Verhaltensänderungen erlangt, könne uns zu einem tieferen Verständnis verhelfen als akademisches Wissen und darüber hinaus auch andere inspirieren. Nicht zuletzt werde auch das Bemühen um Achtsamkeit und Glück nicht nur von der Natur gestärkt, sondern befördere seinerseits unsere Harmonie mit der Natur.