Overline: Filmprojekt
Headline: Der Himmel, das Land und Lektionen über die Natur am Rio Tiquié

Was sie am Himmel sehen, gibt den Menschen am Rio Tiquié im Amazonas-Regenwald vor, wie sie mit ihrem Land umgehen.  Jede Sternenkonstellation ist mit bestimmten Entwicklungen in der Natur und Aufgaben für den Menschen verbunden. Die brasilianische Filmemacherin Mariana Lacerda, zurzeit als Fellow am RIFS, will die „Handhabung der Welt" der indigenen Völker im Nordwesten Brasiliens verstehen und in einem Film festhalten. Das Drehbuch entsteht im Austausch mit den Menschen dort.

Vergleich von Notizen zur Veränderung der Umwelt
Vergleich von Notizen zur Veränderung der Umwelt Mariana Lacerda

Lacerda begann ihr Fellowship im November mit einer weiten Reise: Sie flog zunächst von ihrem Wohnort São Paulo nach São Gabriel da Cachoeira, einer Gemeinde im Bundesstaat Amazonas. Von dort aus machte sie sich gemeinsam mit drei Mitarbeitenden der Nichtregierungsorganisation Instituto Socio-Ambiental per Boot auf in Richtung Nordwesten. Über den Rio Negro und den Rio Uapés erreichten sie nach drei Tagen ihr Ziel: den kleinen Ort Boca da Estrada am Rio Tiquié, nahe der Grenze zu Kolumbien.

„Es ist eine Gegend, die man nur mit erfahrenen Begleitern bereisen kann, entweder mit Indigenen oder, wie ich, mit Anthropologen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituto Socioambiental arbeiten schon seit vielen Jahren mit den Menschen dort. Unterwegs verbrachten wir drei Nächte als Gäste indigener Gemeinschaften am Ufer des Rio Negro, dort und an unserem Zielort wurden wir sehr herzlich empfangen“, berichtet Lacerda. Auch das Interesse der Menschen, an dem Filmprojekt mitzuwirken und so Traditionen und Wissen weiterzugeben, war groß.

Im Zeichen der Lanzenotter

Der Besuch der Filmemacherin fiel mit dem Beginn eines neuen Jahreszyklus zusammen. "Der November ist die Zeit, wenn der Fluss einen seiner Höchststände erreicht und die Paarungszeit der Fische beginnt. Die indigene Bevölkerung nennt die Sternenkonstellation zu dieser Zeit 'Aña'. Dies ist in der indigenen Sprache Tukano der Name einer bestimmten Schlange, der Jararaca-Lanzenotter." Die astronomischen Konstellationen werden mit der Reifezeit der Wildfrüchte, den schwankenden Wasserständen der Flüsse, dem Lebenszyklus von Fischen und anderen Tieren sowie der Bewirtschaftung von Gärten und Feldern in Verbindung gebracht. Die Gemeinschaften würdigen die Veränderungen in der Natur mit Zeremonien. 

Seit 2005 dokumentieren etwa 20 indigene Umweltbeauftragte die Entwicklung der Pflanzen auf den Feldern, das Wachstum der Bäume und die Sichtungen von Tieren. Diese Arbeit steht im Mittelpunkt einer interkulturellen Studie, die von Gemeinden am Rio Tiquié und Forschenden des Instituto Socioambiental und der Federação das Organizações Indígenas do Rio Negro durchgeführt wird. Jedes Jahr im November, wenn ein neuer Jahreszyklus beginnt, treffen sich die Projektbeteiligten, um die Daten in ihren Notizbüchern zu besprechen und gemeinsam zu verstehen, was im Laufe des Jahres geschehen ist.

Mit ihrer Kamera sammelte Lacerda Eindrücke von dem Treffen, bei dem Mitarbeitende aus verschiedenen ethnischen Gruppen gemeinsam eine Illustration des Jahreszyklus erstellten und über aktuelle Herausforderungen sprachen.

Tiere und Pflanzen als Gefährten des Menschen

Die globale Klimakrise macht sich am Rio Tiquié bereits bemerkbar. Normalerweise gibt es das ganze Jahr über starke Regenfälle, die von kurzen Dürreperioden unterbrochen werden. In den letzten Jahren sind die Trockenperioden jedoch länger geworden und die Waldbrände haben zugenommen. Dies führt zu einer Reihe von Problemen, vor allem für die Schifffahrt und die Nahrungsmittelversorgung. Die indigenen Völker sind nicht nur Jäger und Sammler, sondern betreiben auch Subsistenzlandwirtschaft: Auf ihren Feldern bauen sie ihr Grundnahrungsmittel Maniok sowie Bananen, Ananas und Pfefferschoten an. 

Mariana Lacerda war beeindruckt von der Art, wie die Menschen über die Natur sprachen. "Für sie haben Tiere und Pflanzen eine Seele, sie sind Gefährten des Menschen, Träger von Subjektivität. Daraus ergibt sich eine Verantwortung der Menschen, für sie zu sorgen." Wenn etwa die Bestände bestimmter Fischarten zurückgegangen sind, schonen die indigenen Gemeinschaften diese. Die Aufzeichnungen für das Projekt des Instituto Socioambiental helfen ihnen bei der Identifizierung von Problemen.

Die Handhabung der Welt

Mit ihrem Film wollen Lacerda und ihr Team den Zuschauerinnen und Zuschauern auf poetische Weise Einblicke in die Denkweisen und Geisteshaltungen der indigenen Bevölkerung geben. Wichtig ist ihnen dabei auch das Einfangen von Bildern und Geräuschen. „Die Vögel, die Tiere, der Fluss und die vielen indigenen Sprachen – das bleibt im Gedächtnis, lange nachdem man den Wald verlassen hat.“

Das nächste Mal fährt sie im Mai für Filmarbeiten an den Rio Tiquié, bis Ende des Jahres will sie das Drehbuch fertigstellen. Dessen Titel lautet "Aña - Manejo do Mundo". Als "Handhabung der Welt" bezeichnen die indigenen Völker ihre Arbeit, die darin besteht, den Wald zu beobachten, zu verstehen, zu schützen und zu heilen. "Die Menschen leben seit Tausenden von Jahren in dieser Region und haben ein komplexes und detailliertes Wissen über ihre Ökosysteme angesammelt. Sie wissen, wie man die Natur bewahrt, weil sie das 'Gedächtnis der Natur', das in der sie umgebenden Welt gespeichert ist, wirklich verstehen."  Und das, so Lacerda, ist nicht nur faszinierend zu beobachten, sondern kann auch nicht-indigenen Menschen bei ihren eigenen Bemühungen um den Schutz der Artenvielfalt und des Klimas helfen.

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