Headline: Kollektive Verhaltensänderungen für eine nachhaltige Zukunft: Experten entwickeln neue Ansätze

© Ilan Chabay/IASS
© Ilan Chabay/IASS

Ein wachsender Korpus an wissenschaftlichen Informationen verweist auf die rapiden globalen Veränderungen, die menschliche Gesellschaften vor kritische Herausforderungen stellen. Zu diesen Herausforderungen zählen der Klimawandel, der Verlust der Biodiversität und die globalen Grenzen wichtiger Naturressourcen. Eine zentrale Frage, die nicht angemessen behandelt wird, betrifft die Prozesse zur Stützung von Entscheidungen, Verhaltens- und Lebensweisen in Richtung auf eine gerechte und nachhaltige Zukunft in unterschiedlichen lokalen Kontexten. Die internationale Forschungsallianz „Knowledge, Learning, and Societal Change" (KLASICA.org), unter Vorsitz von Ilan Chabay, Senior Advisor Global Sustainability Research am IASS, hat ein internationales Forschungsprogramm gestartet, das sich dieser Frage widmet. Den Anfang machte ein Workshop am IASS vom 7. bis 9. Februar 2016, bei dem Konzepte, Methoden und Fallstudien untersucht wurden, die zum Verständnis kollektiver Verhaltensänderungen wichtig sind. Der Workshop fand im Rahmen des IASS-Forschungsprogramms Technologischer Wandel und gesellschaftliche Transformationen im Anthropozän statt. Hier kamen Experten aus den Bereichen Naturwissenschaften, Psychologie, Soziologie, Kunst, Pädagogik, Philosophie, Theologie und Geschichte zusammen – insgesamt 35 externe Teilnehmer aus einem Dutzend Ländern sowie rund 15 IASS-Teilnehmer –, um ein Portfolio aus analytischen, erkenntnistheoretischen und methodologischen Ansätzen zu entwickeln, die uns tiefere Einsichten vermitteln und uns ermöglichen, einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel hin zu nachhaltigen Zukunftsszenarien zu erleichtern.

Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor am IASS, begrüßte die Teilnehmer, die Fachkenntnisse aus Naturwissenschaften, Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Philosophie, Theologie und Geschichte in den Workshop einbrachten. © Ilan Chabay/IASS
Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor am IASS, begrüßte die Teilnehmer, die Fachkenntnisse aus Naturwissenschaften, Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Philosophie, Theologie und Geschichte in den Workshop einbrachten. © Ilan Chabay/IASS

Die Schwerpunkte des Workshops wurden eingerahmt durch fünf kurze Vorträge, die von umfassenden historischen Rückblicken bis hin zu spezifischen Fragen der Forschung und gesellschaftlichen Praxis reichten. Aus der Debatte erschloss sich für die Gruppe, dass wir ein besseres grundlegendes Verständnis der Bedingungen brauchen, die Veränderungen von kollektiven Verhaltensmustern und Gewohnheiten stützen bzw. blockieren. Es kam auch zur Sprache, welche beispielhaften Fallstudien betrachtet werden sollten, um ein klareres Bild von transformativen Maßnahmen, Praktiken und Bedingungen zu bekommen. Die Teilnehmer diskutierten Fragen der emergenten und intendierten Veränderung, des allmählichen und raschen Wandels im kollektiven Verhalten und des Potenzials von nicht intendierten Folgen oder Dominoeffekten. Angesprochen wurden auch Probleme, die sich beim Verständnis der Gemeinsamkeiten des Wandels in der enormen Bandbreite unterschiedlicher biophysikalischer, kultureller und sozialer Zusammenhänge stellen.

Diskutiert wurde zudem, dass sich der vorherrschende Nachhaltigkeitsdiskurs, mit seiner Betonung von Umweltauflagen und ökologischen Grenzen, verändern muss, um eine breitere Beteiligung anzuregen. John Robinson von der Universität Toronto stellte zwei Kommunikationsweisen gegenüber: persuasive Kommunikation und emergenter Dialog. Persuasive Kommunikation zielt darauf ab, die „richtige Geschichte“ so zu vermitteln, dass sich das individuelle oder politische Verhalten ändert. Der emergente Dialog konzentriert sich hingegen auf Chancen und erlaubt den Teilnehmern, bevorzugte Ergebnisse, Folgen von Entscheidungen und Strategien für den Wandel zu erforschen. „Persuasive Kommunikation ist in Ordnung, wenn wir uns über gesellschaftliche Ziele einig sind. Wenn aber Fragen höchst umstritten sind, wie etwa die Zukunft der Stadt, scheint der emergente Dialog besser geeignet. In strittigen Bereichen sollten wir unsere Sichtweise niemandem aufzwingen“, erklärte Robinson. Er betonte zudem, dass es bei Änderungen des kollektiven Verhaltens mehr darum geht, in einer Gesellschaft andere Abläufe einzuführen, zum Beispiel im Hinblick auf Mülltrennung, und nicht darum jeden Einzelnen zu veranlassen, sich bewusst für eine Verhaltensänderung zu entscheiden.

Ein weiteres wichtiges Thema war die Notwendigkeit, Fachgebietsgrenzen zu überschreiten, damit eine kollektive Verhaltensänderung herbeigeführt werden kann. Entscheidend ist dabei ein Zugehörigkeitsgefühl, so Ulli Vilsmaier von der Leuphana Universität Lüneburg: “Wie kann es gelingen, ein heterarchisches Verhältnis, ja mehr noch, einen 'Wir-Sinn' zwischen Akteuren herzustellen, die unterschiedlichen Gesellschaftsfeldern angehören und in unterschiedlichen Rollen und mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten an einem transdisziplinären Forschungsprozess mitwirken? Ein gemeinsames, übergeordnetes Ziel ist dabei unumgänglich, aber längst nicht ausreichend.“ Es brauche auch Räume und Institutionen, die zwischen etablierten Gesellschaftsfeldern liegen und so Zugehörigkeit in Vielfalt ermöglichen — andere Räume, die sich aus Differenz konstituieren und so auch bestehende Verhältnisse und Hegemonien zu überwinden vermögen, so Vilsmaier. Diese Sicht ist eng verknüpft mit Vorarbeiten von J. David Tàbara (der ebenfalls am Workshop teilnahm) und Ilan Chabay zum Thema „Coupling Human Information and Knowledge Systems with social–ecological systems change: Reframing research, education, and policy for sustainability”.

Die Diskussionen beim KLASICA-Workshop fanden in kleinen Gruppen von sechs bis acht Teilnehmern statt, die ihre Erkenntnisse anschließend mit dem Plenum teilten. © Ilan Chabay/IASS
Die Diskussionen beim KLASICA-Workshop fanden in kleinen Gruppen von sechs bis acht Teilnehmern statt, die ihre Erkenntnisse anschließend mit dem Plenum teilten. © Ilan Chabay/IASS

Wie aus den Gesprächen und Kommentaren klar hervorging, war der Workshop für die Teilnehmer ein intensives und fesselndes Erlebnis: „Die umrahmenden Vorträge und die eingehenden Debatten an den drei Tagen brachten aufschlussreiche und kreative Ideen hervor, die unsere weitere Arbeit mit KLASICA prägen werden; auch entstand eine tatkräftige, engagierte Kerngruppe, die unser Netzwerk für Forschung und Initiativen zur kollektiven Verhaltensänderung für nachhaltige Zukunftsszenarien ausbauen wird“, erklärte Ilan Chabay.

Als Ergebnis des Workshops werden ein erster Beitrag in einem wichtigen internationalen Fachmagazin sowie Texte für Twitter, Blogs und andere Medien geliefert. Die Publikationen werden einen interdisziplinären und transdisziplinären Rahmen für die Forschung zu kollektiven Verhaltensänderungen in Richtung einer nachhaltigen Zukunft abstecken sowie Kriterien für die Auswahl und Analyse von Fallstudien zu kollektiver Verhaltensänderung darlegen. Dieser Rahmen wird, basierend auf dem im Workshop entwickelten Portfolio, die Grundlage für die Entscheidung liefern, welche der vorgelegten Beiträge zu geplanten Symposien über Fallstudien im November 2016 in Taiwan und Anfang 2018 in Südafrika erbeten und evaluiert werden. Die Symposien werden sich auf die Analyse von empirischen Daten zu Erfolgen und Misserfolgen bei Verhaltensänderungen im Nachhaltigkeitskontext konzentrieren. Auf den Symposien werden die Lehren geprüft, die aus Projekten und ihrem unterschiedlichen jeweils wahrgenommenen Erfolg oder Misserfolg zu ziehen sind, darunter auch Projekte, die sich nicht im engeren Sinn auf Verhalten oder Praxis fokussieren, die aber dennoch wertvolle Informationen zur Transformation durch kollektive Verhaltensänderung liefern können. Hier wird sich auch die Gelegenheit bieten, unterschiedliche Ansätze zur kollektiven Verhaltensänderung in Richtung Nachhaltigkeit auf ihre Wirksamkeit, Inklusivität und Skalierbarkeit hin zu bewerten und somit Orientierungshilfen für aktive Ermunterung und Förderung von tiefgreifendem Wandel für eine gerechte und nachhaltige Zukunft zu bieten.