Headline: Mehr Wachstum! Wirklich? Buchprojekt und Workshop zur Entwicklung eines Leitbegriffs im Journalismus

Wie kam das Wachstum in die Zeitung? In seinem Buch setzt sich IASS-Fellow Ferdinand Knauß kritisch mit einem politischen und journalistischen Leitbegriff auseinander. © istock/ kutaytanir
Wie kam das Wachstum in die Zeitung? In seinem Buch setzt sich IASS-Fellow Ferdinand Knauß kritisch mit einem politischen und journalistischen Leitbegriff auseinander. © istock/ kutaytanir

Wirtschaftswachstum gilt Politikern ebenso wie Journalisten weithin als Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft, das Bruttoinlandsprodukt als Indikator einer erfolgreichen Politik. „Wer als Journalist Wachstum einfordert oder als Politiker für Wachstum Politik macht, muss dies nicht rechtfertigen“, sagt IASS-Fellow Ferdinand Knauß. Der WirtschaftsWoche-Redakteur arbeitet während eines zehnmonatigen Forschungsaufenthaltes in Potsdam an einem Buchprojekt. Den Zwischenstand seiner Analyse, wie und warum das Wachstum in die Zeitung kam, stellte er am 7. Dezember während eines Workshops vor, an dem unter anderem der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, der ehemalige Leiter der Hauptredaktion Wirtschaft beim ZDF Michael Jungblut sowie der frühere Bundesumweltminister und IASS-Exekutivdirektor Klaus Töpfer teilnahmen.

Das Bruttosozialprodukt – eine mächtige Zahl

Das „Wachstumsparadigma“ sei ein historisch noch junges Phänomen, sagte Knauß. Die Amerikaner verlangten nach 1945 von den Deutschen, nach ihren Methoden das Bruttosozialprodukt als Maß für die Leistung der deutschen Volkswirtschaft zu erheben. Damit rannten sie offene Türen ein. Schon in der Zwischenkriegszeit hatten deutsche Journalisten verlässliche Wirtschaftsdaten vermisst und auch bemerkt, dass die USA in dieser Hinsicht schon weiter waren. Die neue Messgröße, die den Wert aller produzierten Dienstleistungen und Waren reflektiert, wurde von Journalisten sofort angenommen – ohne dies zum Thema der Reflexion oder Diskussion zu machen. „Von einem kurzzeitigen Wackeln des Wachstumsparadigmas in den frühen 70er Jahren abgesehen, bleibt die Fixierung von Politik und Journalismus auf den Wachstumsbegriff eine erstaunliche Konstante“, erklärte Knauß. Begleitet und gestützt werde es unter anderem von den Narrativen der unbegrenzten Innovationsfähigkeit, der Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland sowie – dies ein jüngeres Phänomen – vom Narrativ des Einwanderers als Wachstumsretter.

Wie kam das Wachstum in die Zeitung? In seinem Buch setzt sich IASS-Fellow Ferdinand Knauß kritisch mit einem politischen und journalistischen Leitbegriff auseinander. © istock/ kutaytanir
Wie kam das Wachstum in die Zeitung? In seinem Buch setzt sich IASS-Fellow Ferdinand Knauß kritisch mit einem politischen und journalistischen Leitbegriff auseinander. © istock/ kutaytanir

Einer der wenigen Politiker, der den Glauben an exponentielles Wirtschaftswachstum schon früh mit Skepsis betrachtete, weil er ihm mit dem Stabilitätsgedanken nicht vereinbar schien, war Kurt Biedenkopf. Beim Workshop erzählte er, dass er die Problematik im Gespräch mit Bürgern und Fachleuten oft mithilfe eines Vergleichs verdeutliche: „Ich frage sie, ob der Wald wächst. Dann frage ich sie, warum er nicht immer größer wird, und das macht die Leute stutzig. In der Natur vergeht ständig etwas, aber in unserer Gesellschaft wird es politisch für unmöglich gehalten, Leuten etwas wegzunehmen. Deshalb muss die gesamte Verteilungsmasse wachsen.“ In unserer Zeit würden die Verteilungsprobleme unumgänglich. Davon seien gerade auch die reichen Industriestaaten betroffen, die am meisten abzugeben hätten.

Wer kann ein Umdenken bewirken?

Bereits heute werde die Wachstumsfrage anders diskutiert als noch vor einigen Jahren, sagte Meinhard Miegel, Vorstandsvorsitzender des „Denkwerks Zukunft“. Dass der Bundestag 2011 die Enquete-Kommission „Wachstum, Wirtschaft, Lebensqualität“ ins Leben rief, sei ein Indiz für einen Wandel – „auch wenn das Ergebnis am Ende enttäuschend war“. Die Kommission fand keine einstimmige Antwort auf die Frage, ob dem Bruttoinlandsprodukt zu große Bedeutung beigemessen wird und es bessere Indikatoren für Lebensqualität gibt. Immerhin, so Klaus Töpfer, führten die Parteien diese Diskussion in Arbeitsgruppen fort, und auch in den Medien werde zunehmend kontrovers debattiert, was ein „gutes Leben“ ausmacht. „Es schwingt das Grundgefühl mit: So wie es ist, ist es doch nicht ganz richtig. Die Standardökonomie ist in einer Krise, weil sich die Ansicht allmählich durchsetzt, dass uns die ‚Verquantifizierung‘ unserer Lebensumstände nicht zu einer Lösung verhilft“, sagte der IASS-Gründungsdirektor.

Eine schwierige Frage sei allerdings, so gab Kurt Biedenkopf zu bedenken, wer der Treiber eines Wandels sein kann: „Wo kommt der Druck her, was wird diese Veränderungen erzwingen? Denn solange kein Druck da ist, passiert nichts. Die Ökologie ist der Druck, aber von der Ökologie zur Übersetzung in eine neue ökonomische Theorie ist es ein schwieriger Weg.“ Uneins waren sich die Teilnehmer des Workshops, welchen Beitrag Journalisten zu einem Paradigmenwechsel leisten können. „Sie sind ja keine Vordenker per se. In erster Linie sind sie Berichterstatter. Man kann nicht erwarten, dass Journalisten die Welt retten“, sagte Michael Jungblut.

Nach Ansicht von Ferdinand Knauß sind Journalisten zu sehr Teil der politischen Klasse geworden. Wirtschaftsjournalisten seien zudem zu fixiert auf die akademische, mathematisierte Mainstream-Ökonomie. Generell sollten Journalisten wieder stärker hinterfragen, was die Politiker den Bürgern weismachen wollen, forderte er. Wirtschaftsjournalisten sollten neue Allianzen mit dem Feuilleton, mit historisch und soziologisch arbeitenden Kollegen suchen. Mit seinem Buch will er ein neues Geschichtsbewusstsein fördern und zu einem Paradigmenwechsel beitragen. Sein in der Diskursanalyse sehr detailliertes Buch, in dem vor allem DIE ZEIT, DER SPIEGEL sowie die FAZ untersucht werden, wird voraussichtlich im Frühjahr 2016 erscheinen.

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